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Das Atomkraftwerk Mühleberg geht vom Netz – und nun?

AKWs wie Mühleberg gehen vom Netz – höchste Zeit, den Umbau des Schweizer Energiesystems ernsthaft an die Hand zu nehmen. Fotos: BKW / Schweizer Solarpreis 2019

Als erstes Schweizer Stromunternehmen nehmen die BKW mit Mühleberg ihr Atomkraftwerk vom Netz. Der Rückbau wird das Unternehmen noch sehr lange beschäftigen. Effizienz und die Erneuerbaren Energien können die Produktion des AKW ersetzen. Diese Energiewende hin zu «100% Erneuerbar in allen Sektoren» ist machbar und finanzierbar.

Text: Walter Sachs, Präsident SSES

Am 20. Dezember 2019 um 12.30 Uhr ist es so weit: Die BKW stellen den Leistungsbetrieb des Atomkraftwerks Mühleberg nach 47 Jahren endgültig ein. Anschliessend soll der Rückbau beginnen, was das Unternehmen vor grosse Herausforderungen stellt. Die Stilllegung sei das grösste Projekt seit dem Bau des AKW vor rund 50 Jahren, erklären die BKW selbst. In den nächsten 15 Jahren soll nach den vorliegenden Plänen der Rückbau erfolgen– ob dies dann auch so reibungslos funktioniert, wie geplant und kommuniziert, wird sich zeigen.

Welcher Weg ist richtig?

Die anderen AKW werden folgen. Auch sie wird man innerhalb der nächsten 5 bis 15 Jahre altershalber abschalten müssen. Nur ist hier der Abschaltzeitpunkt ungewiss– gemäss den Entscheiden des Bundesrates laufen sie, «solange sie sicher sind». Diese Ungewissheit wird für die Stromversorgung in der Schweiz zum Problem, denn dadurch fehlen die Planungssicherheit und der Druck auf Gesellschaft, Elektrizitätswirtschaft und Politik, rechtzeitig Nachfolgekraftwerke aufzubauen, damit die Versorgungssicherheit gewährleistet werden kann. Dies, ohne dass eine übermässige Abhängigkeit von Stromimporten aus ungewisser Herkunft entsteht. Welche Optionen stehen der Schweiz zur Verfügung? Ohne Blick auf die gesetzlichen, gesellschaftlichen und ökologischen Rahmenbedingungen kämen grundsätzlich folgende Kraftwerkstypen infrage: fossile Kraftwerke, die Öl, Gas oder Kohle verbrennen, Kernkraft, alle erneuerbaren Energieformen wie Sonne, Wind, Wasser oder Biomasse oder sogenannte «Negawatt-Kraftwerke», welche die Einsparungen durch Effizienzsteigerungen bezeichnen.

Negawatt-Kraftwerke

Das Projekt «Negawatt statt Megawatt», ein interdisziplinäres Projekt der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, ist zum Ergebnis gekommen, dass in Schweizer Unternehmen der Energieverbrauch um 30% gesenkt werden könnte. Trotz teils intensiven Bemühungen seitens Wirtschafts- und Umweltverbänden, Energieversorgungsunternehmen und Energiefachstellen von Kantonen und Gemeinden wurden diese beachtlichen Energieeinsparpotenziale bis heute erst ungenügend ausgeschöpft. Die ZHAW hat im Speziellen KMU mit einem Stromverbrauch zwischen 10 und 500 MWh pro Jahr betrachtet. Das technische Potenzial für Stromeinsparungen bei diesen KMU wird auf 5,7 TWh pro Jahr geschätzt, was 10% des Stromverbrauches in der Schweiz entspricht. Mindestens zwei Drittel davon wären für die KMU schon heute wirtschaftlich umsetzbar, was einer Einsparung von 3,8TWh pro Jahr entspricht. WS

Doch auf welches Pferd sollen wir setzen? Aufgrund der sich deutlich abzeichnenden, CO2-bedingten Klimaänderungen und der Tatsache, dass auch die Schweiz sich zu den Klimazielen von Paris bekannt hat, sind fossile Kraftwerke für die Zukunft keine Option. Auch die Kernkraft ist wohl keine realistische Option, selbst wenn man davon absieht, dass mit der Annahme der Energiestrategie 2050 der Neubau von Kernkraftwerken ausgeschlossen ist. Denn für den heutigen Park an Kernkraftwerken wären mehrere Ersatzneubauten notwendig. Hier ist aber weit und breit kein Investor in Sicht. Kernkraft ist zudem teuer: Für das im Bau befindliche Kernkraftwerk Hinkley Point C in Grossbritannien wird zum Beispiel über 35Jahre ein Mindeststrompreis von rund 12 Rp./kWh mit Inflationsausgleich gewährt. Dazu kommen Kreditgarantien im Umfang von 13 Milliarden Franken sowie die Übernahme allfälliger Entsorgungsmehrkosten. Die sogenannten «Reaktoren der Generation IV», die in der Zukunft Strom produzieren sollen, sind weit von einer serienreifen Technik entfernt, einige dort verwendete Konzepte (zum Beispiel die Natrium- oder Heliumkühlung) haben schon in der Vergangenheit für grosse Probleme gesorgt – so zum Beispiel der nahe Genf in Frankreich gelegene, natriumgekühlte «Superphénix», der nach nur zwölf Jahren aufgrund wiederholter Störfälle im Natriumkühlkreislauf endgültig ausser Betrieb genommen werden musste. Auch sind die Planungs- und Bauzeiten– es wird mit circa 20 Jahren gerechnet – einfach zu lange. Zum Vergleich: Allein im Jahr 2012 wurden in Deutschland 8,3 GW an Solaranlagen neu gebaut – die in nur einem Jahr dort zugebauten PV-Anlagen produzieren gleich viel Energie wie das Kernkraftwerk Gösgen.

Die nachfolgende Tabelle zeigt die Potenziale der neuen erneuerbaren Energien, die schon bestehende Wasserkraft ist hier nicht berücksichtigt:

Potenziale der erneuerbaren Energien
Technologie Begrenzung Kosten pro kWh Potenzial in CH
Photovoltaik Standorte bei massivem Zubau: ca. 6 Rp, heute: 10-12 Rp 38 bis 50 TWh/Jahr
Wind Standorte ca. 15-20 Rp 4 TWh/Jahr
Biomasse begrenzt durch die Verfügbarkeit des vergärbaren Materials ca. 15-45 Rp 2 TWh/Jahr
Wasserkraft Standorte ca. 5-15 Rp 15 TWh/Jahr
Negawatt: Stromeffizienz keine ca. 1-25 Rp 15 TWh/Jahr
Negawatt: Mobilitätseffizienz (Umstellung auf E-Mobilität) Fahrzeugpark ca. 1-25 Rp 40 TWh/Jahr
Negawatt: Gebäudeeffizienz (Dämmung, alternative Heizsysteme, 20 °C Raumtemperatur statt 21-23 °C) Gebäudebestand ca. 1-25 Rp 35 TWh/Jahr
Quelle für die Potenziale: «Dekarbonisierung des Schweizer Energiesystems», 2019,
Nadia Sperr und Jürg Rohrer, https://doi.org/10.21256/zhaw-3325

Der erneuerbare Weg

Da für die Schweiz aus oben genannten Gründen realistischerweise sowohl die fossile als auch die nukleare Option ausscheiden, bleiben nur noch die erneuerbaren Energien sowie die «Negawatt-Kraftwerke». Letztere sind energetisch gesehen am günstigsten, denn sie erzeugen keine Energie, sondern sorgen durch Effizienzsteigerungen (zum Beispiel in der Industrie) dafür, dass weniger Energie produziert werden muss. Nebst den «Negawatt-Kraftwerken» (siehe Kasten) müssen wir aber auch den Schweizer Kraftwerkspark modernisieren. Und hier muss das Hauptaugenmerk auf den erneuerbaren Energien liegen.

Über sehr grosses Potenzial verfügt die Solarenergie – in der Schweiz stellt sie das grösste ungenutzte Potenzial dar. Sie ist in den letzten Jahren zur preiswertesten Energieform mit kWh-Preisen zwischen acht und zwölf Rappen geworden. In Deutschland, wo grosse Freiflächenanlagen gebaut werden, liegen die kWh-Preise für neue Anlagen bei circa drei Rappen. Auch sind Solarkraftwerke die einzigen Energieproduktionsstätten, die schnell, dezentral und ohne langwierige Standortsuchen sowie Bewilligungsverfahren zugebaut werden können. Hier kann sich jeder Bürger und jede Bürgerin unkompliziert und direkt an der Energiewende beteiligen, denn die Energiewende wird nur gelingen, wenn wir alle mithelfen und an einem Strang ziehen.

Dass die Umstellung auf «100% erneuerbar» machbar, finanzierbar und vor allem nachhaltig ist, haben verschiedenste Studien gezeigt – und dies, obwohl wir hier vor enormen Aufgaben stehen: So verbrennt und verfährt unser Land pro Stunde circa 1,3 Millionen Liter Erdöl. Zählt man noch die Raffinerie- und Transportverluste dazu, sind es gar circa 1,6 Millionen Liter pro Stunde! Interessanterweise ist dieser enorme Energiebedarf erst in den letzten 60 Jahren entstanden: Der Pro-Kopf-Energieverbrauch ist heute zweieinhalbmal höher als 1960, obwohl auch damals die Grundbedürfnisse der Bevölkerung gedeckt waren. Die «grossen Verursacher» dieser Vervielfachung sind die Mobilität, die Entwicklung des Gebäudeparks und die Konsumartikel. Ein Beispiel: Die motorisierte Individualmobilität und der Strassengüterverkehr hatten im Jahr 2017 einen Energieverbrauch von 55TWh. Rund 80% dieser Energie wurden in Wärme und lediglich 20% in Bewegung umgesetzt. Setzt man hier konsequent auf Elektromobilität – mit Antriebseffizienzen von 80% und mehr –, dann reduziert sich der Energiebedarf im Mobilitätssektor (ohne Flugverkehr) in der Schweiz auf 15 TWh pro Jahr. Würde man zeitgleich statt auf immer grössere Fahrzeuge auf kleine und leichte Fahrzeuge setzen, wären der Ressourcenverbrauch sowie die notwendige (Lade-)Infrastruktur noch einmal deutlich kleiner.

 

Zum Stand der Endlagersuche in der Schweiz

Nachdem die Schweiz zwischen 1969 und 1982 den radioaktiven Müll unbekümmert im Nordostatlantik versenkt hat, geht sie heute verantwortungsvoller damit um. Seit 1972 sucht die Nationale Genossenschaft für die Lagerung von radioaktiven Abfällen (Nagra) Lösungen für eine sichere Entsorgung in der Schweiz. Nach aktuellem Kenntnisstand ist dies die Einlagerung in unterirdische Gesteinsschichten. Die Schweizerische Energie-Stiftung (SES) hat in der Vergangenheit verschiedentlich die zu optimistische Planung bei der Endlagersuche bemängelt. Immer wieder wurde der Nagra-Zeitplan von Rückschlägen über den Haufen geworfen, da die technische und gesellschaftliche Komplexität unterschätzt worden war. So musste das in den 1980er-Jahren lange als Endlagergestein bevorzugte kristalline Grundgebirge nach einem Jahrzehnt kostspieliger Erkundung aufgegeben werden, da es geologisch nicht geeignet war. Auch wurde die Nagra mehrmals zurückgepfiffen, weil sie – um Kosten zu sparen – Standorte zu früh ausscheiden lassen wollte. Zuletzt wieder im Fall von Nördlich Lägern. All dies zeigt: Die Entsorgung des Atommülls ist eine gewaltige Herausforderung, für die es noch keine funktionierende Lösung gibt. Weltweit hat noch kein Land ein Endlager für hochradioaktive Abfälle aus Atomkraftwerken in Betrieb genommen. In der Schweiz wurden im Rahmen des «Sachplans geologische Tiefenlager» die anfänglich sechs potenziellen Lagerstandorte auf drei eingegrenzt: Zürich Nordost, Nördlich Lägern und Jura Ost. Aktuell führt die Nagra dort Tiefenbohrungen durch, um die erdwissenschaftlichen Eigenschaften zu vergleichen und darauf die Rahmenbewilligungsgesuche für die geeigneten Standorte abzustellen. Während die Standortsuche vorangetrieben wird, sind noch viele technische Fragen offen: Die Einlagerungstechnik ist noch nicht ausgereift, geschweige denn erprobt. Nach wie vor ist unklar, ob die hochaktiven zusammen mit den schwach- und mittelaktiven Abfällen in einem Kombilager oder getrennt gelagert werden sollen. Das aktuelle Konzept der Nagra sieht keine Möglichkeit vor, den radioaktiven Abfall auf lange Zeit hinaus zu überwachen oder wieder zurückzuholen. Dabei ist heute kaum noch bestritten, dass eine andauernde Überwachung des Tiefenlagers notwendig ist – auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz. Experten wie der Geologe Marcos Buser machen sich für den sogenannten «Dual Approach» stark, der zuerst ein sicheres unterirdisches Zwischenlager und ein Pilotlager zur Demonstration der Sicherheit des Tiefenlagerkonzepts vorsieht. In Zeiten der Klimaproteste und des sich abzeichnenden Generationenkonflikts reift die bittere Erkenntnis: Die letzten Generationen haben sich mit fossilen und nuklearen Energieträgern einen Wohlstand erwirtschaftet, der zulasten ihrer Kinder, Kindeskinder und vieler weiterer Generationen geht. Das Atomstromzeitalter dauert noch ein paar Jahrzehnte. Danach beginnt das Atommüllzeitalter – für Jahrtausende. Höchste Zeit, dass wir unsere Energieversorgung umkrempeln!

Valentin Schmidt, Leiter Kommunikation bei
der Schweizerischen Energie-Stiftung (SES)

Kosten sind tragbar

Zusammengefasst: Die Energiewende wird schneller, preiswerter und ressourcenschonender gelingen, wenn nebst Umstellung auf erneuerbare Energien auch die Effizienz unserer Energienutzung massiv gesteigert wird. Aufgrund des knappen Zeithorizonts, der angesichts der dramatischen Klimaveränderungen noch bleibt, liegt es nahe, dass beim Umbau vor allem auf vorhandene, serienreife Technologien gesetzt werden muss. Der Ausbau der vorhandenen Potenziale reicht zusammen mit der existierenden Wasserkraft aus, um das Ziel «100% erneuerbar in allen Sektoren» zu erreichen. Zudem ist diese Energiewende auch finanzierbar. Der dazu notwendige Ausbau der Photovoltaik und der Windenergie inklusive allfälliger Netzumbauten und Speicher wäre nach Schätzungen der ZHAW mit einmaligen Kosten von rund 57Milliarden Franken verbunden.¹ Diese Zahl scheint viel grösser, als sie ist. Denn der mit dem Umbau produzierte Strom wäre nach der Abschreibung dieser Investition gratis, da keine Brennstoffkosten mehr anfielen. Oder aber wir bezahlen (wie bisher auch) für die verbrauchte Energie, dann wäre der Umbau wohl innerhalb von 10 bis 20 Jahren amortisiert. Zum Vergleich: Die Nationalbank machte 2017 einen Gewinn von 54 Milliarden Franken. Und wir geben pro Jahr 11,5 Milliarden Franken für fossile Energien aus – würden wir diese Gelder in den Ausbau der erneuerbaren leiten, wäre dieser Ausbau innerhalb von fünf Jahren finanziert. Danach hätten wir die Energie gratis. Noch ein letzter Vergleich: Mit 60 Milliarden Franken musste die Eidgenossenschaft die Grossbank UBS in der Finanzkrise 2008 retten, was sich unter dem Strich ausgezahlt hat. 57 Milliarden Franken für die Klimakrise scheint im Vergleich bezahlbar, denn diese Investition wäre zudem durch Stromverkaufseinnahmen wohl innerhalb von zwei Jahrzehnten amortisiert. Auch hätte sie, wie alle Studien übereinstimmend feststellen, positive Auswirkungen für die Wirtschaft und vor allem auch für die Umwelt.

Ein erster Schritt

Klar, die Schweiz alleine kann mit ihren Massnahmen im Inland die Welt nicht retten. Aber als hoch entwickeltes Land steht sie – ethisch, moralisch und technisch gesehen – in der Verantwortung, beim Umbau der Energieversorgung voranzuschreiten und nicht hinterherzugehen. Zumal die Schweiz durch «Energiepartnerschaften» auch mithelfen kann, in einem von der Grösse her vergleichbaren Partnerland die Energieproduktion auf «100% erneuerbar» umzustellen. In einer Energiepartnerschaft hätten wir eine Art Göttifunktion: Im gleichen Masse, wie wir unser Land fit für die Zukunft machen, helfen wir auch dem Partnerland, seine Energieproduktion umzustellen. Dies ist letztlich auch wirtschaftlich interessant. Deshalb: Packen wir es endlich an. Notwendig sind dazu aber griffige Gesetze, bindende Absenkpfade mit realistischen Zwischenzielen inklusive klarer Handlungsoptionen bei Nichterreichung. Dies insbesondere in Bereichen, wo die Idee der «Eigenverantwortung» nicht funktioniert, beispielsweise bei besonders energie- und umweltschädlichen Verfahren. Dass dieser Umbau nicht ganz reibungslos funktionieren wird und wir während der Umbauphase Feinjustierungen vornehmen werden und uns neu abstimmen müssen, ist klar. Aber wir sollten endlich anfangen und dafür aufhören, Partikularinteressen zu hoch zu werten. Die nachfolgenden Generationen werden uns dafür danken. In der Hoffnung, eine breit abgestützte Solarallianz zu bilden, die diesen Ausbau vorantreibt, lädt die SSES Anfang des kommenden Jahres alle interessierten Kreise wie Verbände, Ämter und Energieproduzenten zu einem Solargipfel ein.

Weitere Informationen unter sses.ch/solargipfel

¹https://doi.org/10.21256/zhaw-3234