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«Diese Zeit für Umwege haben wir nicht. Das Problem ist zu dringlich!»

«Das Wichtigste ist, immer wieder zu zeigen, dass die vorhandenen Lösungen keine Spielerei sind, sondern funktionieren. Damit kann die Hauptargumentation der SVP widerlegt werden, die behauptet, die Energiewende sei nicht machbar oder zu teuer.», sagt Marcel Hänggi. Foto: Beat Kohler

Marcel Hänggi kann man als Vater der Gletscher-Initiative bezeichnen. Er gab den Anstoss zur Initiative, die 2019 eingereicht werden konnte. Der Bundesrat entschied, einen indirekten Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative auszuarbeiten. Hänggi hat den parlamentarischen Prozess eng begleitet und sieht verschiedene Vorteile in diesem Weg. Die Gletscher-Initiative wurde am 5. Oktober 2022 zugunsten des indirekten Gegenvorschlags zurückgezogen.

Text: Beat Kohler

Zur Person

Marcel Hänggi ist Journalist und Historiker.2015 berichtete er von der Uno-Klimakonferenz in Paris. Zu schreiben genügte ihm danach nicht mehr. Er wollte selber etwas tun. 2016 schlug er die Lancierung einer Volksinitiative vor. Daraus entstand zuerst eine informelle Gruppe und im 2018 der überparteiliche Verein Klimaschutz Schweiz, der die Gletscher-Initiative lancierte. Aktuell ist Hänggi Mitglied des Initiativkomitees der Gletscher-Initiative und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Vereins Klimaschutz Schweiz. 

Wie überrascht waren Sie von diesem Referendum der SVP? Haben Sie damit gerechnet?

Marcel Hänggi: Ja. Verschiedene Leute waren der Meinung, dass die Volkspartei das Referendum nicht ergreifen werde. Ich habe aber damit gerechnet, weil die SVP schon vor zwei Jahren begonnen hat, Energie zu ihrem grossen Thema zu machen. Dieses Thema eignet sich für die SVP, weil sie Probleme lieber bewirtschaftet, als sie zu lösen, und weil sie gerne Ängste schürt. Darum rechnete ich damit, dass die SVP die Gelegenheit nutzen wird, um mit diesem Referendum im Wahljahr Wahlkampf zu machen. 

Hätten Sie es begrüsst, wenn diese Abstimmung nicht in einem Wahljahr stattfinden würde? Hätte das die Diskussion sachlicher gemacht?

Das ist sehr schwer abzuschätzen. Wir hätten den Termin auch verzögern können, da wir ja die Initiative bedingt zurückziehen mussten, damit dieses Gesetz überhaupt in Kraft treten kann. Wenn wir das später getan hätten, wäre die Chance gross gewesen, dass die Abstimmung nach den Wahlen stattgefunden hätte. Ob dies ein Vorteil wäre, ist unklar. Wir wissen nicht, wie die politische oder klimatische Situation in einem Jahr aussehen wird. Der Abstimmungszeitpunkt kann selbstverständlich entscheidend sein, aber man kann die Vor- und Nachteile nicht voraussehen. Alle, die beispielsweise sagen, das CO2-Gesetz sei am Abstimmungstermin gescheitert, haben zwar vielleicht recht, aber im Voraus hätten sie dies auch nicht gewusst.

Wenn Sie mit einem Referendum gerechnet haben, wäre es dann aber grundsätzlich nicht besser gewesen, die Initiative nicht zurückzuziehen?

Wie schon gesagt: Damit das Gesetz in Kraft treten kann, muss die Initiative zurückgezogen oder abgelehnt werden. Das steht so in diesem Gesetz drin. Wir hätten uns also auch auf den Standpunkt stellen können, mit der Initiative an die Urne zu gehen. Wenn sie abgelehnt worden wäre, hätte das Gesetz immer noch greifen können. Aber auch in diesem Fall hätte gegen das Gesetz immer noch das Referendum ergriffen werden können, und alles wäre sehr viel länger gegangen. Diese Zeit für solche Umwege haben wir nicht. Das Problem ist zu dringlich. Darum haben wir uns im Initiativkomitee einstimmig für den Rückzug ausgesprochen. 

Müssen Sie sich im Abstimmungskampf nun für eine abgeschwächte Version der Gletscher-Initiative einsetzen, nachdem im parlamentarischen Prozess Kompromisse gefunden werden mussten? Macht es das für Sie schwieriger?

Ich glaube nicht, dass dieses Gesetz eine abgeschwächte Version ist. Was hier vorliegt, ist nicht ein Verfassungsartikel, wie das bei der Initiative der Fall gewesen wäre. Zwar liegt das Gesetz in der Hierarchie eigentlich unter der Verfassung. Weil wir kein Verfassungsgericht haben, wirkt ein Gesetz paradoxerweise aber stärker. Zudem sind im vorliegenden Gesetz schon konkrete Massnahmenbereiche festgehalten. Beim Verfassungsartikel wäre dies nicht der Fall gewesen. Da hätte nach einer Annahme zuerst noch ein Gesetz erarbeitet werden müssen. Unter dem Strich gewinnen wir mit dem direkten Weg zum Klimaschutzgesetz also Zeit. Natürlich ist dieses insofern ein Kompromiss, als dass wir den vorgesehenen Absenkpfad als nur knapp genügend erachten. Als Gesamtpaket ist es in der Wirkung aber besser, als wenn wir jetzt die Verfassung ändern würden, um danach ein Gesetz dazu auszuarbeiten, gegen das auch wieder das Referendum ergriffen werden könnte.

Die letzten Klimavorlagen beim Bund und in den Kantonen waren immer sehr umstritten und der Ausgang häufig knapp. Wie sehen Sie die Chancen dieses Gegenvorschlages?

Die Chancen sind gut. Dennoch müssen wir extrem aufpassen, weil wir in einer Zeit verschiedener Krisen leben. Wir haben eine Energiekrise, die kurzfristig durch den russischen Krieg gegen die Ukraine ausgelöst wurde, und eine dadurch entstandene Angst vor Stromknappheit. Die Antwort müsste nun eigentlich heissen, dass wir uns auch aus diesem Grund vom Gas und Öl verabschieden müssen, weil wir sehen, wie unsicher diese Energiequellen sind, und weil wir mit den Importen aus Russland den Krieg mitfinanzieren. Paradoxerweise läuft die politische Dynamik aber anders. In Zeiten von Krisen wollen viele Menschen möglichst nichts ändern. Deshalb haben es politische Vorlagen in Zeiten von Krisen immer schwer, selbst wenn sie perfekt geeignet sind, um die Krise zu bewältigen.

Wir hatten auch einen Winter mit so ­wenig Schnee wie noch nie. Auch das Problem der Klimakrise sollte offensichtlich sein?

Das ist so, und ich finde es an sich schlimm, dass wir davon profitieren können. Wir hatten einen trockenen Hitzesommer 2022, Sommertemperaturen im November und 20 °C im Januar und kaum Schnee im Jahr 2023, was auch eine fehlende Schneeschmelze und fehlende Wasserreserven nach sich zieht. Eigentlich spricht alles für uns. Wie diese Ereignisse wahrgenommen werden, zeigt aber, dass viele Menschen – darunter auch viel Journalistinnen und Journalisten – immer noch nicht begriffen haben, dass die Situation bereits katastrophal ist. Das lässt sich beispielsweise schon nur daran festmachen, dass Artikel über die Hitze immer wieder mit fröhlichen Leuten im Freibad illustriert wurden. Ich glaube, die Dringlichkeit des Themas ist trotz allen Hitzerekorden bei den Menschen immer noch nicht angekommen.

Müsste man in diesem Sinn auch mit den Meteorologen sprechen, die in ihren Prognosen schon nach einem Tag Regen sehnsüchtig davon sprechen, wann endlich wieder die Sonne scheint?

Genau. Vieles ist auch fest in unserer Sprache verankert, schon nur der Begriff des «schönen Wetters». Diese Prägung stammt aus einer Zeit, als man immer froh war, wenn die Sonne schien. Eigentlich müsste man jetzt sagen, schönes Wetter ist es, wenn es über längere Zeit kräftig regnet oder schneit. 

Die Klimakrise war für viele lange nicht sichtbar und schreitet verglichen mit einem Krieg langsam voran. Verdrängt der Krieg in Europa die Klimakatastrophe zusätzlich aus den Köpfen der Menschen?

Bei der Klimakrise gibt es einen Gewöhnungseffekt. Wenn man beispielsweise heute Jugendliche betrachtet, dann war das kälteste Jahr, das sie erlebt haben, wärmer als sämtliche Jahre im 20. Jahrhundert. Wir leben wirklich in einer anderen Klimazeit. Junge Leute kennen das, was für ältere Menschen vor 30 oder 40 Jahren normal war, gar nicht. Wenn wir jetzt das Klima wiederherstellen könnten, das wir in den 1980er-Jahren hatten, wäre das für die Sicherung unserer ökologischen Lebensgrundlage grossartig. Für viele wäre es aber ein Schock, wie kalt es dann wieder wäre. 

Sind auch deshalb die Mehrheiten bei ­Klimavorlagen so knapp, weil viele nichts Negatives in heissen und sonnigen ­Sommern sehen?

Vielleicht ist das mit ein Grund. Allerdings bestreitet nur noch eine kleine Minderheit, dass die Klimaerhitzung ein massives und vom Mensch verursachtes Problem ist. Viele haben aber noch nicht verstanden, wie dramatisch die Situation tatsächlich ist. Unsere grösste Gegnerin diesbezüglich ist eine massive und sehr aggressive Lobby, die weltweit und in der Schweiz gegen klima­politische Lösungen kämpft. Diese Lobby versucht, alle Ansätze schlechtzu­reden. Dabei wird offensichtlich gelogen und mit falschen Zahlen operiert. In der Meinungsbildung kämpfen wir in erster ­Linie gegen diese Lobby. 

Wo sehen Sie Aktivitäten dieser Lobby konkret?

Da reicht es schon nur, die Kommunikation der SVP bei der Lancierung der Unterschriftensammlung oder beim Einreichen der Unterschriften zu betrachten. Da wurde offensichtlich gelogen und die Klimakrise mit ältesten Argumenten von Klimaleugnern in Abrede gestellt. Es gibt auch andere, wie die Nationalräte Christian Imark oder Michael Graber, die das subtiler machen. Sie verneinen die Klimaerwärmung nicht. Michael Graber sagte aber in einer Fernsehsendung, dies sei keine Krise, weil daran noch niemand gestorben sei. Da frage ich mich, welche Zeitungen er liest und auf welcher Welt er lebt. Und wenn die SVP behauptet, dieses Gesetz löse Kosten von 347 Milliarden Franken aus, dann hat sie den Unterschied zwischen Kosten und Investitionen nicht verstanden.

Die SVP versteht sich auch als die Partei der Landwirtschaft. Könnte man in bäuerlichen SVP-Kreisen nicht Befürworter für die Vorlage abholen, weil sie am direktesten von der Klimakrise betroffen sind?

Bäuerinnen und Bauern spüren und wissen, dass die Krise in vollem Gang ist. Gleichzeitig sind sie es aber gewohnt, das Wetter zu nehmen, wie es ist. Das war in der Landwirtschaft immer so. Wer heuen will, muss warten, bis es einige Tage trocken ist. Das ist vielleicht ein Grund. Politisch wehrt sich aber der Bauernverband, dass Klimaziele festgehalten werden, wie wir unlängst bei der Beratung der Agrarpolitik 2022+ gesehen haben. Mit diesem Verband habe ich manchmal Mühe. Er ruft nach staatlicher Hilfe, wenn es zu trocken ist. Er ist aber danach nicht bereit, etwas gegen das zugrunde liegende Übel zu unternehmen. Ich habe aber immer noch die Hoffnung, dass der Bauernverband unsere Vorlage unterstützt. 

Wir haben bis jetzt nur von der SVP als Gegnerin der Vorlage gesprochen. Ist die Seite der Befürworter wirklich so breit und geschlossen, wie es den Anschein macht?

Wenn es um dieses Gesetz geht, dann ist die Geschlossenheit vorhanden, was sehr gut ist. Wenn es dann um die Frage geht, wie die wegfallenden fossilen Brennstoffe mit anderen Energieformen ersetzt werden sollen, dann gibt es auch unter unseren Unterstützern Uneinigkeit. Das wird jetzt im Rahmen des Mantelerlasses diskutiert. Hier wollen die einen die alten AKW länger laufen lassen. Andere wollen ein möglichst frühes Abschaltdatum. Es gibt also Differenzen. Diese halte ich aber bezogen auf das Klimaschutzgesetz nicht für problematisch, weil das bei anderen Vorlagen diskutiert wird. Für unser Anliegen, aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen und bis 2050 netto null CO2-Ausstoss zu erreichen, haben wir einen sehr breiten Konsens. 

Ist die Unterstützung für die Vorlage auch so breit, weil die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger von der Vorlage finanziell weniger stark direkt betroffen sind als beim CO2-Gesetz?

Sie sind auch direkt betroffen, aber im Sinne von Förderungen. Beispielsweise bei einem Heizungsersatz bei Privaten – von dem auch Mieterinnen und Mieter profitieren – oder bei Unternehmen, die das Netto-null-Ziel erreichen wollen, unterstützt der Staat. Das Gesetz funktioniert ganz anders als das CO2-Gesetz, das als bestrafendes Gesetz wahrgenommen wurde. Wer vor zwei Jahren beim CO2-Gesetz gesagt hat, er sei schon für Klimaschutz, aber nicht so, müsste uns jetzt eigentlich unterstützen. Wer jetzt wieder sagt «So nicht», beweist, dass er gar keinen Klimaschutz will.

Wie geht es weiter, wenn das Klimaschutzgesetz angenommen wird?

Das Gesetz tritt voraussichtlich 2024 in Kraft. Damit es wirksam werden kann, braucht es noch eine Verordnung, die jetzt in der Bundesverwaltung vorbereitet wird. Diese Verordnung durchläuft das normale Verfahren mit den entsprechenden Vernehmlassungen. Vermutlich wird sie nicht vor 2024 verabschiedet. 

Wie zuversichtlich sind Sie, dass wir mit einer Annahme dieser Vorlage die Klima­krise in der Schweiz in den Griff bekommen?

Ich finde die Vorlage gut, und ich habe die Hoffnung, dass sie das Potenzial hat, Veränderungen auszulösen, die eine Eigen­dynamik entwickeln. Dies vor allem im Bereich der Wirtschaft, wenn Unternehmen beginnen, sich selbst Netto-null-Fahrpläne zu geben. So könnten die Ziele, die wir uns gesetzt haben, auch übertroffen werden. Das ist meine Hoffnung, weil die Ziele an sich zu knapp sind.

Die Schweiz muss alle fossilen Treibstoffe mit geringer lokaler Wertschöpfung importieren, und die Wirtschaft ist den Preisschwankungen voll ausgesetzt, was für die Wirtschaft eigentlich schon bisher einen Anreiz zur Abkehr von diesen Energieträgern dargestellt hätte. Warum sollte die Wirtschaft mit der Vorlage einfacher überzeugt werden können zu handeln?

Ich habe Mühe, wenn man von «der Wirtschaft» spricht. Es gibt ganz viele Akteure, die schon bisher ganz unterschiedlich gehandelt haben. Zudem wird unsere Vorlage von den meisten Wirtschaftsverbänden unterstützt. So profitieren beispielsweise die Gewerbler direkt von der Vorlage, weil sie die Abkehr von den fossilen Brennstoffen dann umsetzen, auch wenn sich die rechtsgerichtete Spitze des Gewerbeverbands nicht positiv geäussert hat. Leider hat aber die Energiewende bei vielen Wirtschaftsvertretern den Ruf, dass sie zwar nett ist, aber nicht ganz ernst genommen werden kann. Viele haben nicht wahrgenommen, wie wahnsinnig dynamisch sich diese Energietechnik in den letzten Jahren entwickelt hat. Wir stehen an einem völlig andern Ort als noch vor zehn Jahren. Das ist ein Grund, warum einige die Vorteile noch nicht sehen. Insgesamt sieht man aber Fortschritte. Unternehmen, die richtig und langfristig rechnen, bauen heute keine Ölheizung mehr ein. Für private Hausbesitzerinnen und Hausbesitzer ist aber die Anfangs­investition eine Hürde, die mit dem Gesetz jetzt übersprungen wird.

Sie haben erwähnt, wie stark sich die erneuerbaren Energien und insbesondere die Solarbranche entwickelt hat. Was kann diese Branche im Abstimmungskampf zur Annahme der Vorlage bei­tragen?

Das Wichtigste ist, immer wieder zu zeigen, dass die vorhandenen Lösungen keine Spielerei sind, sondern funktionieren. Damit kann die Hauptargumentation der SVP widerlegt werden, die behauptet, die Energiewende sei nicht machbar oder zu teuer. Beispielsweise wenn die SVP behauptet, jährlich müsste die Speicherkapazität der Grande Dixence zugebaut werden, dann beruht das auf einer unvernünftigen Annahme. Es gibt inzwischen viele wissenschaftliche Studien, die zeigen, dass die Wende technisch und finanziell gut machbar und sogar vorteilhaft ist. Die Solar­branche kann glaubwürdig zeigen, wie die Wende konkret mit den vorhandenen Technologien auf die Dächer geschraubt wird. Es ist zentral, dass man der Angst vor einem neuen Energiesystem, die von der SVP geschürt wird, begegnet, indem man zeigt, dass die Branche den Wandel bewerkstelligen und bewältigen kann.

In der jüngeren Vergangenheit war aber öfter von Material- und Personalengpässen die Rede. Was muss die Branche anders kommunizieren?

Es gibt zwei riesige Strukturwandelthemen: die Digitalisierung und die Dekarbonisierung. Über die Digitalisierung wird immer als Chance und Herausforderung gesprochen. Die Dekarbonisierung hingegen wird sehr oft als Gefahr dargestellt. Dabei ist die Dekarbonisierung genauso eine grosse Chance, wenn nicht noch eine viel grös­sere. Diese können wir ergreifen, oder wir können den Zug verpassen. Ich würde mir eine «Yes we can»-Stimmung aus der Solarbranche heraus erhoffen. Die Schweiz ist reich und ein guter Technologiestandort, also packen wir es an! 

www.mhaenggi.ch