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Wasserstoffwirtschaft: Mit falschen Versprechen in die Krise

Ulf Bossel ist ein sehr erfahrener Brennstoffzellenexperte und gleichzeitig starker Kritiker der Wasserstoffwirtschaft. Er arbeitete unter anderem für das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt oder auch für die ABB. Zudem war er 1975 Mitbegründer der Deutschen Gesellschaft für Sonnenenergie und deren erster Präsident bis 1978. Heute ist der Maschinenbauingenieur in Oberrohrdorf (AG) als Berater für nachhaltige Energie­lösungen tätig und nimmt hier die Wasserstoffwirtschaft etwas genauer unter die Lupe.

Text: Ulf Bossel, PhD (UC Berkeley), Dipl. Masch.-Ing. (ETH Zürich)

Nur Energie aus erneuerbaren Quellen kann der Menschheit für alle Zeiten klimaneutral dienen. Die von Wind, Sonne, Wasser und Wellen geerntete Energie steht allen Sektoren der Energienutzung in hochwertigster Form als elektrischer Strom zur Verfügung. Für den Transport des grünen Primärstroms von der Quelle zum Energieverbraucher gibt es jedoch mehrere Wege mit unterschiedlichen Energiebilanzen. Zur Verwirklichung der Energie- und Klimawende muss deshalb zuerst die Frage beantwortet werden: «Wie kann mit einer Kilowattstunde grünem Primärstrom am meisten Nutzen im Endbereich generiert werden?» Man muss also Energiewandlungsketten miteinander vergleichen, denn die Nutzungssektoren werden über unterschied­liche Wege mit Energie versorgt. Die spezifischen Energieverluste oder Wirkungsgrade der einzelnen Wandlungsschritte sind hinreichend bekannt. Man kann für jede dieser Übertragungsketten die Gesamtenergiebilanz «von der Wiege bis zur Bahre» erfassen und das zukünftige Energiesystem gezielt für eine möglichst hohe Gesamteffizienz optimieren. Leider sind die Energiebilanzen der Wasserstoffnutzung noch nicht Teil der öffentlichen Diskussion. Wasserstoff ist nicht eines von vielen Gasen, sondern das leichteste mit speziellen Eigenschaften. Für alle physikalischen Wandlungsschritte wird wesentlich mehr Energie benötigt als für Erdgas. Wasserstoff ist deshalb ein unbequemer Energieträger für die Gestaltung der Energiewende.

Die Wasserstoffversorgung beginnt mit der Beschaffung und Destillation des Wassers (9 Liter pro kg H2) für die Elektrolyse. Der erzeugte Wasserstoff muss dann mehrfach komprimiert, verteilt, gespeichert und umgefüllt werden. Im Endbereich wird er in Brennstoffzellen wieder in Strom verwandelt oder in Kesseln verbrannt. Alle Wandlungsschritte zwischen grünem Primärstrom, Wasserstoff und Nutzung des mit Brennstoffzellen erzeugten Sekundärstroms sind mit Energieverlusten oder zusätzlichem Energiebedarf verbunden.

Die in Luzern 2003 auf dem European Fuel Cell Forum vorgetragene Energie­analyse einer Wasserstoffwirtschaft «The Future of the Hydrogen Economy: Bright or Bleak?» ist 2006 im Auftrag des Fraunhofer Instituts für Technikfolgeabschätzung in deutscher Sprache veröffentlicht und 2010 ins Netz gestellt worden. Basierend auf diesen allgemein zugänglichen Ergebnissen wird im Folgenden exemplarisch dargestellt, welchen Nutzen man aus grünem Primärstrom ziehen kann, wenn man ihn direkt über bestehende Leitungen und nicht indirekt über ein noch nicht vorhandenes Wasserstoffnetz verteilt.

Alle Antworten verdeutlichen, dass Wasserstoff ein für die Energiewende ungeeigneter Energieträger ist, denn mit grünem Strom und dem bestehenden Stromnetz lässt sich der Endbereich ebenso umweltneutral, aber wesentlich effizienter und kostengünstiger mit sauberer Energie versorgen.

Beispiel 1: Nachhaltige Wärmeerzeugung

Eine grüne Kilowattstunde kann über bestehende Leitungsnetze mit vernach­lässigbaren Verlusten verteilt und direkt in eine Kilowattstunde Heizwärme um­gewandelt werden. Man kann mit der Kilo­wattstunde auch eine Wärmepumpe betreiben und erhält dann etwa drei Kilowattstunden Heizwärme. Auch lässt sich mit dem grünen Primärstrom Wasser elektrolytisch spalten. Der so erzeugte Wasserstoff wird im Erdgasnetz verteilt und in Heizkesseln verbrannt. In diesem Fall müssen mit dem grünen Primärstrom alle zuvor genannten Wandlungsschritte energetisch bedient werden. Lediglich ein Drittel der Originalenergie steht noch für die Erzeugung von Nutzwärme zur Verfügung. Der Vergleich mit den zwei anderen Optionen ist vernichtend: Eine grüne Kilo­wattstunde liefert mit Wärmepumpe drei Kilowattstunden, mit Widerstandsheizer eine Kilowattstunde, mit Wasserstoff jedoch nur ein Drittel einer Kilowattstunde als ­nutzbare Heizwärme, also 9 zu 3 zu 1. Es ergibt überhaupt keinen Sinn, aus grünem Primärstrom Wasserstoff zu erzeugen, den man in bestehende Erdgasnetze einspeist, um ihn dann in Heizkesseln zu verbrennen. Die mit grünem Strom betriebene elektrische Wärmepumpe ist der klare Sieger für eine nachhaltige ­Wärmeerzeugung.

Beispiel 2: Nachhaltige Mobilität

Auch hier stellt sich die Frage, ob man die grüne Kilowattstunde direkt in Fahrzeugbatterien steckt oder zur Erzeugung von Wasserstoff verwendet, den man mit hohem Druck in die Tanks von Brennstoffzellenfahrzeugen füllt. Die Lieferkette unterscheidet sich geringfügig von der ­Wasserstoffverteilung als Brenngas. Der bei mittlerem Druck über Rohrleitungen oder Tanklastwagen verteilte Wasserstoff muss an der Tankstelle zum Befüllen der Fahrzeugtanks noch einmal auf 900 bar verdichtet werden. Im Gegensatz zur Batterieladung am Strassenrand wird auch Strom für den Betrieb der bemannten Tankstellen benötigt. Nur 40% der mit dem Wasserstoff getankten Energie stehen der Brennstoffzelle als Nutzenergie zur Verfügung. Diese kann jedoch im Mittel höchstens 50% in Strom für die Antriebsmotoren umwandeln. Der Gesamtwirkungsgrad der Wasserstoffkette liegt bei etwa 20%. Vom grünen Primärstrom sind bei einem Batteriefahrzeug etwa 80% für den Fahrzeugantrieb nutzbar. Auch kann Bremsenergie zurückgewonnen werden. Der Systemwirkungsgrad liegt deshalb bei 85%. Mit dem grünen Strom, der für den Betrieb eines Wasserstoff-Brennstoffzellen-Fahrzeugs benötigt wird, können also mindestens vier gleichwertige Fahrzeuge mit Batterie betrieben werden. Im Verkehrsbereich kann Wasserstoff deshalb keine Zukunft haben. Nicht nur die hohen Energieverluste, sondern auch die enormen Investitionskosten werden Wasserstoff für alle Zeiten nicht konkurrenzfähig gegenüber grünem Strom machen. Eindeutiger Sieger ist auch hier der elektrische Weg.

Beispiel 3: Wasserstoff in Gaskraftwerken

Auch soll grüner Wasserstoff eine CO2-freie Stromerzeugung in Gaskraftwerken sichern. Hier gelten zuerst einmal die im Beispiel 1 genannten Wirkungsgrade für die Wasserstofflieferung zum Gasbrenner. Dann folgt jedoch noch der Wirkungsgrad der Gasturbine, der hier mit 45% angesetzt wird. Vom grünen Primärstrom, der als Wasserstoff verteilt und in einem Gaskraftwerk wieder in Strom verwandelt wird, sind also nur noch etwa 20% als Sekundärstrom nutzbar. Für eine Energieverteilung mit Wasserstoff müssen viermal mehr Wind- oder Solarkraftanlagen errichtet werden als für eine direkte Stromversorgung über bestehende Netze. Auch hier ist die direkte Netzeinspeisung des grünen Stroms eindeutiger Sieger.

Beispiel 4: Synthetische Kraftstoffe

Der mit grünem Strom hergestellte Wasserstoff kann mit Kohlenstoff künstlich zu synthetischen Energieträgern vereint werden, mit denen fossile Brennstoffe ersetzt werden sollen. Der benötigte Kohlenstoff wird entweder aus fossilen Quellen gewonnen oder als CO2 von Abgasen und Luft getrennt. In beiden Fällen wird CO2 nicht beseitigt, sondern lediglich unter neuem Label rezykliert. Diese auch als «Power-to-Gas» oder «Power-to-Liquid» bekannten Verfahren sind jedoch sehr energieintensiv. Zu den bereits bei der Wasserstofferzeugung entstandenen Energieverlusten kommt der Energiebedarf für die CO2-Abscheidung hinzu. Der Gesamtwirkungsgrad für die Herstellung synthetischer Kraftstoffe liegt unter 15%. Beim Einsatz dieser grünen Kraftstoffe in Verbrennungsmotoren gehen noch einmal 70% zwischen Vergaser und Antriebsrad verloren. Auf die Strasse gebracht werden deutlich weniger als 10% der grünen Primär­energie. Bei elektrischem Antrieb wären es etwa 85%. Mit dem grünen Primärstrom, der für den Betrieb eines Verbrenners mit synthetisch hergestellten «grünen» Kraftstoffen benötigt wird, könnte man also etwa neun gleichwertige Batteriefahrzeuge mit Strom versorgen. Auch hier ist der elektrische Weg der klare Sieger.

Beispiel 5: Chemische Anwendungen

Bei allen chemischen Prozessen, die heute mit fossilen Brennstoffen oder dem daraus gewonnenen Wasserstoff durchgeführt werden, kann grüner Wasserstoff den CO2-Ausstoss stark vermindern. Energie wird jedoch vor allem für die Beheizung der Reaktoren eingesetzt. Nur ein kleiner Teil des Brennstoffs wird für den chemischen Prozess benötigt. Fossile Energieträger wie Koks, Erdgas oder Erdöl haben in Hochöfen und anderen Chemiereaktoren eine thermische und eine chemische Funktion. Die vollständige Substitution der fossilen Brennstoffe führt zu einem enormen Wasserstoffbedarf. Als nachhaltige Lösung bietet sich jedoch eine Trennung von Aufheizung und Reaktions­chemie an. Mit grünem Strom wird ­geheizt, mit grünem Wasserstoff wird reduziert. In diesem Fall wird grüner Strom sinnvoll genutzt und Wasserstoff lediglich zur chemischen Reaktion verwendet. Wieder ist die elektrische Beheizung mit grünem Strom besser als die einfache Sub­stitution fossiler Energieträger durch Wasserstoff.
Man könnte weitere Beispiele zitieren. Alle haben eins gemeinsam: Grüner Wasserstoff ist nur sinnvoll, wenn er in ­chemischen Prozessen kohlenstoffhaltige Energieträger ersetzt.
Grüner Strom kann sowohl Heiz- und Prozesswärme als auch Transportenergie für Strassen- und Schienenfahrzeuge direkt liefern. Für den interkontinentalen Verkehr zu Luft und zu Wasser wird man jedoch fossile oder synthetische Energieträger einsetzen müssen, denn die für Wasserstoff benötigten Tankvolumen lassen sich kaum in Langstreckenflugzeugen unterbringen. Umso wichtiger ist die schnelle Umstellung zu Lande auf grünen Strom.

Beispiel 6: Energiespeicherung

Die Speicherung von Sommerstrom für die Wintermonate ist sicherlich eine bisher ungelöste Aufgabe. Wasserstoff wird ernsthaft diskutiert, aber auch in diesem Fall können selbst bei effizienter Rückwandlung mit Brennstoffzellen vom grünen Primärstrom nur etwa 20% dem Endverbrauch zugeführt werden. Wegen der geringen volumetrischen Energiedichte von Wasserstoff werden massive Speichertanks für Hochdruck- und riesige ­Kavernen für Niederdruckspeicherung benötigt. Auch synthetisch hergestellte Flüssigkeiten (Liquid Organic Hydrogen Carriers [LOHC]) oder Gase (Methan) sind im Gespräch. Bei diesen Stoffen sinkt der Gesamtwirkungsgrad weiter, auf unter 10%. Zurzeit wird über viele Möglichkeiten nachgedacht. Wirtschaftliche Lösungen sind noch keine in Sicht. Zuerst sollte jedoch der Energiebedarf im Winter durch Gebäudeisolation und einige organisatorische Massnahmen drastisch gesenkt werden, damit eine saisonale Speicherung der im Sommer geernteten Sonnenenergie überhaupt machbar wird.

Fazit

Die Energiewende wird in eine «Elektronenwirtschaft» münden. Mit diesem Begriff wird der umfassendere Einsatz von grünem Strom beschrieben, dessen Ursprung Sonnenenergie ist und der dezentral direkt oder indirekt mit Photovoltaik-, Wind- oder Wasserkraftanlagen geerntet wird. Elektronenwirtschaft ist nicht gleichzusetzen mit «Elektrizitätswirtschaft». Die Schaffung einer Elektronenwirtschaft ist aus energetischer und wirtschaftlicher Sicht weit sinnvoller als der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft. Bis eine flächendeckende neue H2-Infrastruktur entstanden ist, müssten in den kommenden Jahren riesige Investitionen getätigt werden, die es eigentlich überhaupt nicht braucht, um das Klima zu retten. Denn die elektrische Grundversorgung für eine Elektronenwirtschaft existiert bereits und muss nur teilweise ergänzt oder ertüchtigt werden. Notwendig ist jedoch eine rationellere Stromnutzung im Endbereich. So führt beispielsweise der einfache Austausch von Heizkessel durch elektrische Wärmepumpen gleicher Heizleistung zu einem Strommangel im Winter. Sinnvoller ist es, Gebäude energetisch zu ­sanieren, bevor man den Ölkessel durch eine kleine Luft-Luft-Wärmepumpe ersetzt. Solche organisatorische Massnahmen müssen vom Gesetzgeber behandelt werden.
Das Klimaproblem lässt sich mit grünem Strom und begleitenden Energiesparmassnahmen relativ schnell lösen. Mit dem zeitraubenden und energetisch fragwürdigen Umweg über Wasserstoff wird die drohende Klimakatastrophe jedoch kaum zu vermeiden sein. Die Politik muss schnellstens umdenken, bevor die Weichen in Richtung Sackgasse gestellt sind.

www.leibniz-institut.de/archiv/bossel_16_12_10.pdf